In den 1860er-Jahren verbringt Fernand Khnopff als Kind einige Jahre in Brügge. Damals atmet die Stadt Melancholie und wirkt leicht verschlafen – und das macht Eindruck auf den jungen Khnopff.
Vierzig Jahre später entsteht dieses Werk, Secret-Reflet, zwei separate und sehr unterschiedliche Zeichnungen, die Khnopff in einem vergoldeten, rechteckigen Rahmen zusammenbringt. Die Bleistiftzeichnung unten zeigt die gotische Außenwand des mittelalterlichen Sint-Janshospitals, vor allem jedoch seine Spiegelung im Wasser des Flüsschens Reie. Eine Spiegelung heißt auf Französisch reflet. Khnopff ist ein symbolistischer Künstler: Nicht die Dinge selbst sind wichtig, sondern ihre Spiegelungen. Die Symbolik des Spiegels ist in der symbolistischen Kunst sehr beliebt.
Die Pastellzeichnung oben ist ein Porträt von Khnopffs Muse, seiner Schwester Marguerite, die er sehr bewundert. Hier sieht Marguerite aus wie eine Priesterin. Sie streichelt und verschließt die Lippen einer Maske, die ihr ähnelt. Die Maske – oder vielleicht Marguerite selbst? – soll ein Geheimnis bewahren. Ein Geheimnis heißt auf Französisch secret. In dem, was nicht gesagt wird, nicht sichtbar ist, nicht sofort verständlich ist: darin liegt einem Symbolisten wie Khnopff zufolge die Essenz des Lebens.
Doch worin besteht der Zusammenhang zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Zeichnungen? Dieses Rätsel überlässt Fernand Khnopff ganz dem Betrachter. Sie dürfen Ihren Assoziationen also freien Lauf lassen.